Ich beschäftige mich derzeit mit dem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ von dem Psychologen Daniel Kahneman. Er berichtet dort sehr allgemeinverständlich von seinen Forschungen, für die er mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften geehrt wurde. Mit diesen Forschungen hat er sehr zur Entwicklung der Behavioral Economics beigetragen, die im Rahmen von Experimenten ökonomisches Verhalten analysiert. Dabei wird das ökonomische Standardmodell – in dem Menschen rational handeln, um ihren eigenen Nutzen zu maximieren – in Frage gestellt. Neulich habe ich mich in einem Blogbeitrag mit der Annahme der Nutzenmaximierung beschäftigt und bin zu dem Schluss gekommen, dass auch wenn Menschen in Experimenten Fairness wünschen, die Annahme der Nutzenmaximierung sinnvoll sein kann (vgl. Wie gut ist der Mensch?). Heute möchte ich mich mit einer anderen Gruppe von Experimenten beschäftigen, auf deren Basis die ökonomische Rationalität in Frage gestellt wird.
In einer Vielzahl von Experimenten zeigt sich, dass Menschen, wenn sie eine Zahl abschätzen oder bewerten müssen nach Ankerpunkten suchen, die dann die Schätzung beeinflussen. Dabei erfolgt die Suche nach dem Ankerpunkt völlig unbewusst und intuitiv. Dies wird an dem folgenden Beispiel deutlich: Der Hälfte der Besucher eines Naturkundemuseums wurde die folgenden Fragen gestellt:
1) Glauben Sie, dass Mammutbäume 365 Meter hoch werden können?
2) Wie hoch glauben Sie, dass Mammutbäume werden können?
Der anderen Hälfte der Besucher wurden die folgenden Fragen gestellt:
1) Glauben Sie, dass Mammutbäume 55 Meter hoch werden können?
2) Wie hoch glauben Sie, dass Mammutbäume werden können?
Die erste Gruppe von Besuchern hat 365 Meter als Ankerpunkt verwendet, die zweite Gruppe hat 55 Meter als Ankerpunkt verwendet. Die Folge war, dass die erste Gruppe die Höhe von Mammutbäumen im Durchschnitt bei 260 Metern geschätzt hat, die zweite Gruppe hingegen nur bei 86 Metern.
Besonders faszinierend und problematisch ist, dass bei Experimenten – wenn nichts anderes greifbar ist – auch völlig willkürliche Zahlen als Anker verwendet werden. Auch hier ein Beispiel: erfahrene Richter bekamen ein Diebstahlsdelikt vorgelegt. Dann sollten sie zwei Würfel werfen. Die Würfel waren gezinkt, so dass die Summe der Würfelaugen entweder drei oder neun ergab. Die Richter, die eine Neun geworfen hatten, verhängten im Durchschnitt eine sehr viel längere Haftstrafe als diejenigen, die eine Drei geworfen hatten.
Die Zahl der Experimente, die zeigen, dass willkürliche Ankerpunkte verwendet werden, ist groß und das Ergebnis ist stabil. Können wir daraus ableiten, dass Menschen nicht im ökonomischen Sinn rational handeln? In den Experimenten musste eine schwierig abzuschätzende Zahl ohne langes Nachdenken und ohne weitere Recherche abgeschätzt werden. Mir fällt dazu ein, dass ich einmal an der chinesischen Mauer mit einem Händler über den Kauf eines Andenkens verhandelt habe. Ich war mir weder über den angemessenen Preis sicher, noch war ich an die vielen Nullen, die das Rechnen mit Yuan erfordert, gewöhnt. Der Händler hatte einen völlig überzogenen Preis genannt; ich habe ihn dann deutlich runtergehandelt. Hinterher habe ich festgestellt, dass ich etwa um den Faktor 10 zu viel gezahlt habe. Ich bin hier durch die völlig überhöhte Forderung einem Ankerpunkt erlegen. Ich glaube auch, dass es Werbung von Zeit zu Zeit gelingt, unsere Zahlungsbereitschaft in einem Laden zu erhöhen. Dennoch glaube ich nicht, dass wir uns in der Regel und im Wesentlichen völlig irrational verhandeln. Im Regelfall haben wir sinnvoll gewählte Ankerpunkte. Wenn wir Lebensmittel einkaufen, wissen wir die Preise vom letzten Einkauf und wir sehen neben dem Preis der Butter auch den für Margarine. Sinnvolle Ankerpunkte erlauben es uns, den Preis schnell und angemessen zu beurteilen. Bei größeren Käufen, wie den eines Hauses, werden wir über längere Zeiten recherchieren um ein Gefühl für angemessen Preise zu bekommen. Darüber hinaus werden wir uns mit anderen beraten und über den Preis diskutieren. Dies geschieht auch in Unternehmen, in denen Preise, Vertragsbedingungen und Handlungen mit Kollegen und Vorgesetzten diskutiert werden. Entscheidungen müssen gerechtfertigt werden. Auch die Richter entscheiden nicht völlig allein, nach dem Wurf von zwei Würfeln. Hier argumentieren Verteidiger und Staatsanwälte und in wichtigen Fällen gibt es Beisitzer, mit denen sich die Richter abstimmen müssen.
In der Summe kann man also feststellen: Der Mensch ist nicht schlau genug sich von willkürlichen Ankerpunkten loszumachen. In der Regel verwenden wir aber erprobte und bekannte Ankerpunkte, die hilfreich sind, weil sie es möglich machen schnell zu einer sinnvollen Entscheidung zu kommen. Bei wichtigen Entscheidungen, die wir selten treffen und bei denen wir deshalb keine sinnvollen Ankerpunkte aus der Erfahrung haben, sind wir schlau genug uns Mechanismen zu schaffen, mit denen wir zu rationalen Entscheidungen kommen. In der Summe halte ich dies für durchaus schlau.