Gastbeitrag von Hugo Winters
Für die Entscheidung zur Flucht über das Mittelmeer (oder auch den Landweg) in die EU zahlen Menschen aus Afrika und dem Nahen Osten einen enorm hohen Preis. Der für die Betroffenen oft kaum erschwingliche Geldbetrag, den der Schlepper verlangt, ist nur ein –unmaßgeblicher – Teil davon. Zum Preis, wie er hier verstanden wird, gehören auch die kaum vorstellbaren Entbehrungen und Unwägbarkeiten auf dieser Reise, die einschließlich unabsehbarer Wartezeiten vor der Einschiffung sehr lange dauern kann, die vollständige Ohnmacht gegenüber den kriminellen “Helfern” und nicht zuletzt das beträchtliche Risiko , dabei ums Leben zu kommen. Ob man für diesen extremen Preis überhaupt etwas bekommt, ist dabei ungewiss. Viele von denen, die lebend ihr Ziel erreichen, werden sogleich wieder zurückgeschickt. Dann war alles umsonst, was sie auf sich genommen haben.
Warum sind so viele Menschen bereit, sich auf ein solches Geschäft einzulassen? Der mit einer erfolgreichen Flucht erzielbare Nutzen muss ungeheuer groß sein – er wiederum ist das Spiegelbild der hoffnungslosen Lage derer, die sich zur Flucht entscheiden.
Gewiss spielen bei diesem Kalkül manchmal auch Informationsmängel eine Rolle. Die Härten und Gefahren der Flucht oder ihre Erfolgsaussichten mögen nicht immer realistisch eingeschätzt, die Perspektiven eines Lebens in Europa positiver gesehen werden als sie wirklich sind. Entscheidend sind solche Irrtümer aber sicher nicht: Gerade heute ist angesichts der großen Zahl derer, die sich schon auf den Weg gemacht haben, der weltweit großen Beachtung des Themas und der allen zugänglichen Informationskanäle davon auszugehen, dass niemand ahnungslos oder impulsiv eine derart existenzielle Entscheidung trifft.
Es ist also anzunehmen, dass die Flucht hunderttausender übers Mittelmeer im Großen und Ganzen das Ergebnis rationaler Entscheidungen ist. Macht dies den Tod Tausender und die Qualen der anderen akzeptabler? Natürlich nicht. Wenn massenhafter Tod die Folge menschlicher Entscheidungen ist, muss eine Gemeinschaft mit den humanen Ansprüchen der EU aktiv werden, um die Bedingungen dieser Entscheidungen zu verändern. Wie kann das geschehen?
Viele aktuelle Vorschläge zielen darauf, das Angebot an Fluchthilfe zu beseitigen. Das ist schwierig nicht nur aus praktischen Gründen und angesichts der großen Profitchancen und der entsprechend ausgeprägten kriminellen Energie der Anbieter. Selbst wenn alle bestehenden Schlepperorganisationen ausgeschaltet werden könnten, so würde eine Nachfrage, die so stark ist, dass sie beinahe jeden Preis akzeptiert, wohl immer wieder ein neues Angebot entstehen lassen. Zudem können Teilerfolge im Sinn einer Verknappung des Angebots auch unerwünschte Folgen haben, wie sie sich auch jetzt schon beobachten lassen: Es werden dann die Preise noch weiter steigen, was zwar manche von ihrem Fluchtwunsch abbringt. Für die aber, die es trotzdem versuchen, würden die Fluchtbedingungen noch grausamer und die Lebensgefahr noch grösser werden.
Wenn dies also nicht die Lösung sein kann, muss auch der Vorschlag in Betracht kommen, legale und sichere Wege für Flüchtlinge nach Europa zu schaffen. Diese wären nicht gleich mit einem Bleiberecht verbunden, sondern würden einen gefahrlosen Zugang zu den üblichen Verfahren, in erster Linie zum Asylverfahren eröffnen. Es wird zurecht befürchtet, dass solche Optionen von zahllosen Fluchtwilligen überrannt würden. Klar: Da eine solche Möglichkeit beinahe kostenlos wäre, müsste sie noch viel mehr Nachfrage finden als die heutigen Wege zur Flucht.
Da die Aufnahmebereitschaft Europas begrenzt ist, würde die neue Option also zwangsläufig kontingentiert sein, nicht jeder könnte davon Gebrauch machen. Wie auch immer die Plätze vergeben würden (ein nach Herkunftsländern oder Wartezeit differenziertes Losverfahren?) – wichtig wäre, dass jeder Fluchtwillige eine gewisse Chance hätte, den neuen und besseren Weg zu nutzen. Dies nämlich würde das Kalkül verändern: Die bloße Aussicht auf eine Alternative würde viele Menschen davon abhalten, sich in die Hände von Schleppern zu begeben, der horrende Preis und die Zahl der Toten müssten sinken. Die Stärke des Effekts ist natürlich abhängig davon, welche Kapazität ein sicherer Fluchtweg hätte. Ist die Chance für den Einzelnen allzu klein, wird sie auch die Entscheidungen der Fluchtwilligen nur ganz geringfügig ändern.
Ein weiterer und grundsätzlich wohl der beste Weg zur Senkung der Nachfrage wäre es, die Lage in den Herkunftsländern zu verbessern. Dieser Weg ist aber auch der schwierigste. Während er etwa im Fall Syriens vorerst völlig versperrt erscheint, müsste man es in Bezug auf Afrika wenigstens versuchen. Wenn beide Kontinente ihre gemeinsame Verantwortung ernst nähmen, so müssten EU und Afrikanische Union zusammen aktiv werden, damit nicht weiter Millionen von Menschen aus Verzweiflung ihr Leben aufs Spiel setzen.
Eine solche Initiative ist vorstellbar, aber nur dann, wenn einige harte Bedingungen erfüllt sind. Viel europäisches Geld zur Finanzierung von Lebenschancen gehört ebenso dazu wie die Bereitschaft der afrikanischen Staatengemeinschaft, auf Hauptherkunftsländer mit menschenfeindlichen Regierungen wirksamen Druck auszuüben. Das klingt utopisch, aber könnte die dramatische Lage auf dem Mittelmeer und an seinen Ufern nicht Kräfte mobilisieren, die auch bislang Unmögliches wenigstens denkbar machen?